Denken ist öffentlich, politische Gleichschaltung wird verborgen
Aufruf zur Solidarisierung:
Das Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie in Belgrad (IFDT) ist in Gefahr
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Das renommierte Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie Belgrad (IFDT) wurde von an der jugoslawischen 68er-Bewegung beteiligten Dissidenten gegründet, in den 90ern Jahren stellte es sich gegen die Politik von Milošević. Auch seither blickt es auf eine autoritätskritische und liberale Tradition zurück. So wirkte der 2003 ermordete Reformpolitiker Zoran Đinđić, ein studierter Philosoph und erster serbische Regierungschef der Nach-Miloševic-Ära, mehrere Jahre an diesem Institut.
Das IFDT soll nun, wie es scheint, an die politische Leine genommen werden. Die serbische Regierung hat einen neuen Aufsichtsrat bestimmt, in den von politischer Seite mehrere äußerst umstrittene Personen gewählt worden sind: So ist Zoran Avramović als Präsident des Aufsichtsrates vorgesehen. Er war in den 1990ern von der rechtsradikalen Partei von Vojislav Šešelj (der wiederum vom Haager Tribunal schuldig gesprochen wurde) in offizielle Führungspositionen im Bildungsministerium befördert. Avramović hat bereits angedeutet, was er vom Institut hält, so erwirkte er die Aussetzung der Finanzierung des IFDT-Regionalzentrums in Novi Sad. Auch der aktuelle kommissarische Leiter zeigt, so weit es nach außen dringt, mittels repressiver Maßnahmen an, wie die Zukunft des Instituts aussehen soll (angedrohte Einstellung der Lohnzahlung, Versuch die Entscheidungsfreiheit des institutsinternen wissenschaftlichen Rats zu verkleinern, Unterdrucksetzen junger Wissenschaftler*innen etc.).
Die Demokratie und konkret: die Wissenschafts- und Bildungslandschaft ist in Serbien in einer zunehmend bedrohten Situation. Es gibt nur wenige freie Medien. Der Versuch, nun eine autonome akademische Institution wie das IFDT zu mundtot zu machen und vielleicht zu beseitigen, schwächen die serbische demokratische Öffentlichkeit weiter. Doch genau das – Öffentlichkeit – fürchten der politisch neu installierte Aufsichtsrat und die serbische Regierung auch! Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit kann durch europäische Solidarität von Fachkolleg*innen und Intellektuellen verteidigt werden. Im konkreten Fall ist dies im Jahr 1980 schon einmal geschehen, damals riefen Jürgen Habermas, Iring Fetscher, Oskar Negt und Albrecht Wellmer erfolgreich zur Unterstützung der späteren Institutsgründer auf, indem sie sich direkt an die damaligen jugoslawischen und serbischen Behörden wendeten. Wer hätte gedacht, dass 2020 erneut die Philosophie in Serbien vor dem Staat geschützt werden muss?
Vor diesem Hintergrund fordern wir, die Unterzeichner dieses Aufrufes, die sofortige Neubesetzung des Aufsichtsrates des IFDT mit wissenschaftlichen Fachleuten, nämlich Vertretern einer offenen und demokratischen Wissenschaftskultur; bei der Wahl des neuen Institutsleiters sollen die Wünsche der Institutsmitglieder respektiert werden. Auch soll die serbische Regierung dem IFDT keinen neuen Leiter dem Institut per Dekret aufzwingen können. Das Institut muss seine politische und institutionelle Unabhängigkeit wiedererhalten. Wenn die serbische Regierung ernsthaft die Demokratisierung unterstützt und sich als vertrauenswürdiger EU-Beitrittskandidat positionieren will, wird sie sich von diesem Versuch politischer Gleichschaltung zurückziehen.